Einführung

Im Vorwort zur Taschenbuch-Ausgabe von „Deutschland schafft sich ab“ klagt Thilo Sarrazin über die Verengung der Rezeption seines Buches auf die „Islamkritik“. Haben wir die falsche Sarrazin-Debatte geführt?

Es stimmt: Sarrazins „Islamkritik“ ist nur ein Nebenprodukt eines umfassenden Projekts, dessen Hintergrund bisher weitgehend im Dunkeln blieb. Sarrazins Thesen blasen nämlich zum Angriff auf den Sozialstaat; sie polemisieren gegen soziale Durchlässigkeit und kämpfen für die Verbreitung einer aggressiven Ideologie der Ungleichwertigkeit. Deren Botschaft: Alle gesellschaftlichen Gruppen außerhalb des Bildungsbürgertums sind minder. Und besonders minder sind die sozial Schwachen.

Wer den Ursprung der These sucht, ein Volk werde unausweichlich dümmer, wenn die „weniger Intelligenten“ mehr Kinder bekommen, sollte in dem von Sarrazin zustimmend zitierten Buch „Genie und Vererbung“ von Francis Galton blättern. Es ist bald 150 Jahre alt. Damals schrieb der Begründer der Eugenik, in zivilisierten Gesellschaften sei die Fruchtbarkeit der befähigteren Klassen vermindert, während die „Unbedachtsamen“ und „Nichtehrgeizigen“ am meisten Nachkommenschaft aufzögen: „So verschlechtert sich die Rasse allmählich, wird in jeder folgenden Generation für eine hohe Zivilisation weniger tauglich.“
Man sollte sich klarmachen, wie klein die von Galton beschriebenen „befähigteren Klassen“ (Richter, Literaten, Naturwissenschaftler, Mathematiker) damals  waren. In Preußen beispielsweise zählten Mitte des 19. Jahrhunderts gerade mal 0,3 Prozent der Erwerbstätigen zum Bildungsbürgertum. Über zwei Drittel der Bevölkerung gehörten zur Unterschicht. Der weit überwiegende Teil der heutigen Akademiker dürfte also von jenen kinderreichen, unbedachtsamen und nichtehrgeizigen Bevölkerungsteilen abstammen, denen Galton schlechte Erbanlagen zuschrieb. Kaum jemand – auch Sarrazin nicht – kann sicher sein, dass seine Vorfahren von Theoretikern, die sich im 19. Jahrhundert über die Qualität der Bevölkerung Gedanken machten, für wertvoll und fortpflanzenwert erachtet worden wären.

Wären die von Galton beschriebenen Gegenauslese-Mechanismen wirksam, hätten die westlichen Gesellschaften seither einen kontinuierlichen Niedergang hinnehmen müssen. Das Gegenteil ist eingetreten. Die offene, moderne Gesellschaft, in der alle Schichten und Gruppen so viele Kinder bekommen, wie es ihnen passt, hat sich als leistungsfähiges Erfolgsmodell erwiesen. In allen westlichen Ländern ist das Qualifikations- und Bildungsniveau der Bevölkerung stark angestiegen, seit die Dysgenik-These erstmals formuliert wurde.

Sarrazin hat eine historisch überkommene Zukunftsprognose wiederbelebt, die sich längst als unzutreffend erwiesen hat. Dass die Medien diesen Hintergrund übersehen und Sarrazins simplen Dreisatz als neue, provokante These aufgeblasen haben, gehört zu den Absurditäten der Diskurs-Inszenierung um den Bestseller „Deutschland schafft sich ab“.

Es gab Versuche der Aufklärung. Zu den raren Ausnahmen zu rechnen sind die Buchkritik von Jörg Blech auf Spiegel-Online („Die Mär von der vererbten Dummheit“) und die Aufsätze des FAZ-Mitherausgebers Frank Schirrmacher, der erkannte, dass sich „Sarrazin größtenteils auf die hochkontroversen Arbeiten von Charles Murray und Richard Herrnstein (The Bell Curve) stützt“. Sarrazin unterschlage sämtliche Einwände gegen Murray und Herrnstein, „die bis zum Vorwurf des Betrugs und der Desinformation reichen“, schrieb Schirrmacher. Hier blitzte erstmals profunde Quellenkritik auf. Doch der Ball wurde nicht aufgegriffen, nicht weitergespielt. Die Meinungen waren gemacht. „The poison that Mr. Sarrazin had released by reinforcing cultural hostility to immigrants with genetic arguments seemed to have taken root in popular prejudices“, bilanzierte Jürgen Habermas Ende Oktober 2010 in der New York Times.

Der vorliegende Sammelband versucht, die Wissenschaftsdiskussion in den Fokus zu rücken: Auf welche Quellen bezieht sich Sarrazin im Einzelnen? Welche gesellschaftspolitischen Ideen und Ziele haben Sarrazins Gewährsleute verfolgt? Was sagen seriöse Bevölkerungs- und Evolutionsforschungen zum Komplex Intelligenz und Vererbung? Zudem: Welche Kritik gibt es in der angelsächsischen Wissenschaft an den Grundannahmen und Methoden der psychologischen Intelligenzforschung, auf die sich die Neo-Eugeniker, Sarrazin inklusive, berufen?

Es ist höchste Zeit, die während der Mediendebatte seit dem Spätsommer 2010 versäumte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Denkmustern und Denkfehlern der Eugenik nachzuholen.

Hamburg, im Januar 2012

Michael Haller / Martin Niggeschmidt

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Interview mit Michael Haller: „Die Schuld der Medien am Spektakel um Sarrazin“ (daStandard.at, 30.7.2012)

Martin Niggeschmidt: „Das gutgläubige Leitmedium – Der Spiegel und Sarrazin“ (Message – internationale Zeitschrift für Journalismus, 3/2013)